30.10.2023 | #schleichdiduoaschloch

Auf der Suche nach dem kollektiven Gedächtnis des Wiener Terroranschlags

Welcher kollektive Erinnerungsraum bildete sich bereits kurz nach dem Terroranschlag vom 2. November 2020? Unterscheiden sich nationale und internationale Reaktionen? Gab es islamophobe oder fremdenfeindliche Töne? Die ÖAW-Wissenschaftler:innen Marcella Tambuscio und Martin Tschiggerl haben für die Beantwortung dieser Fragen auf Social Media 248.000 Tweets untersucht.

Eine Gedenkstätte am Wiener Desider-Friedmann-Platz, die nach dem Terroranschlag vom 2. November 2020 vorübergehend eingerichtet wurde. © Wikimedia Commons

Am 2. November 2020 erlebte Wien den schlimmsten Terroranschlag seit Jahrzehnten: Ein selbsternannter islamistischer Attentäter tötete vier Menschen und verletzte 23 weitere. Der Anschlag löste ein starkes Medienecho aus, vor allem auch auf Twitter (heute X). Martin Tschiggerl und Marcella Tambuscio von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) haben nun 248.000 Tweets, an denen mehr als 133.000 Nutzer beteiligt waren, analysiert.

Die beiden untersuchten, wie sich in den ersten 48 Stunden kollektive Narrative der Erinnerung etablierten. „Erstaunlicherweise handelte es sich hierzulande vor allem um positive Narrative von Gemeinschaft und des Gedenkens an die Opfer. Islamophobe oder fremdenfeindliche Inhalte sind nur in absoluten Einzelfällen zu beobachten“, sagt Tschiggerl im Gespräch. 

Twitter als Erinnerungsraum

Sie haben sich auf das Medium Twitter konzentriert. Warum?

Martin Tschiggerl: In den Memory Studies ist Twitter das am meisten untersuchte Medium, weil dort verstärkt erinnerungspolitische Narrative verhandelt werden. Der Satz #schleichdiduoaschloch ist auf Twitter entstanden – und ging dann hinaus in alle klassischen Massenmedien. Auch deutsche Wochenzeitungen haben damit aufgemacht. Es gab in Wien Graffitis und T-Shirts damit. Dass er in diesem Wortlaut nie gefallen ist, tat der Popularität keinen Abbruch.

Dass der Satz #schleichdiduoaschloch in diesem Wortlaut nie gefallen ist, tat der Popularität keinen Abbruch.

 

Sie gehen davon aus, dass sich innerhalb der ersten 48 Stunden ein gemeinsames Narrativ gebildet hat.

Tschiggerl: #schleichdiduoaschloch ist in der Terrornacht selbst entstanden. Und wurde zum Symbol des Zusammenhalts von Wien. Es ging darum, sich nicht unterkriegen zu lassen, die Idee eines gemeinsamen Wiens zu stärken, #wienliebe war beispielsweise ein Hashtag, der oft mit #schleichdiduoaschloch kombiniert wurde. Erstaunlicherweise handelte es sich hierzulande sich vor allem um positive Narrative der Gemeinschaft und des Gedenkens an die Opfer. Islamophobe oder fremdenfeindliche Inhalte sind nur in absoluten Einzelfällen zu beobachten und spielen innerhalb der verschiedenen österreichischen Netzwerke aufgrund der geringen Reichweite eine untergeordnete Rolle.

Reaktionen von Frankreich bis Indien

In Österreich gibt es nicht viele vergleichbare Terroranschläge. Wie hat das die Diskussion geprägt?

Tschiggerl: Es gab in den 1970er- und 1980er-Jahren durchaus ähnliche Aktionen etwa die Geiselnahme bei der OPEC 1975, den Anschlag auf den Wiener Stadttempel 1981 und auf den El-Al-Schalter am Flughafen Wien 1985. Diese kamen in der Online-Diskussion allerdings kaum vor. Sie wurden lediglich in manchen Printartikeln erwähnt. Auch auf  den rechtsextremen Anschlag in Oberwart von 1995 konnten wir keine Bezüge finden. Durch den Wiener Anschlag am 2. November 2020 wurde ein neuer Referenzrahmen geschaffen.

Hierzulande fanden sich vor allem positive Narrative der Gemeinschaft und des Gedenkens an die Opfer.

Wie waren die internationalen Reaktionen?

Marcella Tambuscio: Wenn wir uns die geografischen Koordinaten ansehen, erkennen wir, dass sie hauptsächlich aus Städten kommen, die ähnliche Anschläge erlebt haben – also Paris, Nizza oder Barcelona.Da gab es bestehende Narrative, auf die man zurückgreifen konnte. In Frankreich, aber auch in Deutschland wurde der Wiener Terroranschlag in das Framing vergangener Anschläge eingebaut. Überrascht hat uns, dass es eine sehr starke Reaktion in Indien gab, in denen die Erinnerung an den Anschlag in Mumbai 2008 reaktualisiert wurden. Es wurden Parallelen gezogen, wie beispielsweise, dass der Attentäter in Wien ähnlich angezogen und auch ein Islamist war.

Diese Analyse könnten wir heute nicht mehr durchführen aufgrund der neuen Beschränkung von Twitter/X.

Der Wiener Anschlag wurde also instrumentalisiert, um Politik zu machen?

Tambuscio: Menschen mit unterschiedlichen ideologischen Zielen haben versucht, diesen Anschlag für sich zu nutzen. Wir haben Beispiele von indischen Politiker:innen, die islamophobe Stimmung damit machten. Er wurde aber auch verwendet, um auf den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien aufmerksam zu machen, die Lage der Türkei zu thematisieren und auf die US-Wahl zu verweisen. Was wichtig ist zu betonen: Diese Analyse könnten wir heute nicht mehr durchführen aufgrund der neuen Beschränkung von Twitter/X. Seit der Übernahme von Elon Musk ist es auch für Wissenschaftler:innen nicht mehr möglich, Tweets in großen Mengen herunterzuladen. Das ist forschungsmethodisch ein großes Problem.

Martin Tschiggerl und Marcella Tambuscio

 

AUF EINEN BLICK

Martin Tschiggerl ist Historiker und seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Marcella Tambuscio ist Postdoctoral Research Fellow am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und PostDoc an der Universität Graz.

Publikation:

“#schleichdiduoaschloch” Terror, Collective Memory, and Social Media”, Marcella Tambuscio, Martin Tschiggerl, Social Media & Society, 2023
DOI: https://doi.org/10.1177/20563051231186365