01.03.2024 | Israel

Forschen im Angesicht des Krieges

Die Vienna Jerusalem Graduate School ermöglicht auch inmitten des aktuellen Nahostkrieges den intensiven Austausch zwischen der Hebräischen Universität in Jerusalem und österreichischen Wissenschaftseinrichtungen wie der ÖAW. Mitveranstalter Tobias Ebbrecht-Hartmann erzählt, warum diese Veranstaltung gerade heuer ein Zeichen der Hoffnung setzt.

Von der Hebräischen Universität in Jerusalem blickt man in alle Himmelsrichtungen. Ein Symbol für die geopolitische Komplexität des aktuellen Konflikts. © Adobe Stock

Bereits zum vierten Mal findet vom 4. bis 7. März 2024 die Vienna Jerusalem Graduate School statt – erstmals ohne Mitwirkung der im Vorjahr verstorbenen Mitinitiatorin und Historikerin Heidemarie Uhl. Dafür unter den Vorzeichen eines politischen Konflikts.

Doch der vielfache Wunsch der Studierenden bestärkte die Veranstalter, Tobias Ebbrecht-Hartmann von der Hebräischen Universität Jerusalem und Ljiljana Radonić vom Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), das Format mit je sieben österreichischen und vier israelischen Studierenden sowie internationalen Expert:innen vor Ort in Jerusalem abzuhalten. Die Graduate School steht heuer unter dem Motto: "Entangled Memories: Reviewing Connected, Networked and Relational Layers of History".

Wie es ist, inmitten eines Krieges Studierende zu unterrichten und warum die Hebrew University dennoch ein interkultureller Ort der Begegnung bleibt, erzählt Tobias Ebbrecht-Hartmann im Interview.

Man spürt den Krieg an jeder Ecke

Wie ist die Atmosphäre an der Hebräischen Universität Jerusalem im Angesicht des aktuellen Konflikts?

Tobias Ebbrecht-Hartmann: Man spürt ihn hier natürlich an jeder Ecke. Wir haben lange überlegt, ob wir diese Graduate School überhaupt durchführen können, ob Menschen aus Österreich bereit sind, zu kommen oder ob es Sicherheitsbedenken gibt. Für mich war es ein erhebendes Gefühl, als klar war: Wir machen das.

Wurde der universitäre Betrieb in Israel überhaupt durchgehend aufrechterhalten?

Ebbrecht-Hartmann: Nein, rund die Hälfte der Studierenden war zwischenzeitlich zum Kriegsdienst eingezogen. Erst am 31. Dezember sind wir verspätet ins Semester gestartet. Dann war es aber ein positives Gefühl zu sehen, dass palästinensische Studierende, jüdische Studierende, orthodoxe und weniger religiöse, auch internationale Studierende, sich gemeinsam am Campus bewegen und sicher fühlen konnten. Es gab keine negativen Vorfälle, was auch zeigt, dass diese Universität erfolgreich war in ihren Bemühungen, einen sicheren und integrativen Raum zu schaffen.

Ich bin sehr stolz an einer Universität in Israel zu unterrichten, die auch einen stetig wachsenden Anteil palästinensischer und arabischer Studierender hat.

Welche Maßnahmen wurden denn gesetzt?

Ebbrecht-Hartmann: Wir Lehrkräfte wurden beispielsweise auf mögliche Spannungen vorbereitet und auf die Frage, wie man auch schwierige Themen wie das Gedenken an den Holocaust oder die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts in diesen Zeiten vermitteln kann.

Einstein Mitbegründer der Universität

Auch die Hebräische Universität selbst ist ein historischer Ort: Die Grundsteinlegung erfolgte 1918, dreißig Jahre vor der Gründung des Staates Israel – Albert Einstein war einer der Gründer.

Ebbrecht-Hartmann: Die hebräische Universität ist tatsächlich ein Gründungsbaustein der am Anfang des 20. Jahrhunderts noch vollkommen utopischen Idee, so etwas wie einen jüdischen Staat in dieser Region aufzubauen. Aus meiner Sicht geht eine große Verantwortung damit einher, an so einem Ort zu unterrichten, der Jüdinnen und Juden die Möglichkeit gab, zu studieren, zu einer Zeit, wo sie in Europa und den USA vom Studium meist ausgeschlossen blieben. Bis heute stellt sich uns hier immer wieder die Frage nach Inklusion und Diversität: Ich bin sehr stolz, an einer Universität in Israel zu unterrichten, die auch einen stetig wachsenden Anteil palästinensischer und arabischer Studierender hat und so interkulturelle Begegnung ermöglicht, in dieser von politischen Konflikten gezeichneten Region.

Vom Standort unserer Universität, dem Mount Skopus, blickt man in alle Richtungen: Räumlich liegt diese Universität im Zentrum des Konflikts.

Hat der aktuelle Konflikt auch die Themenwahl der Graduate School beeinflusst?

Ebbrecht-Hartmann: Nicht direkt. Das Motto haben meine Kollegin Ljiljana Radonić von der ÖAW und ich bewusst offen formuliert, um den Teilnehmenden die eigentliche Themenwahl zu überlassen. Der weit gefasste Fokus liegt auf transnational verknüpften Perspektiven der Erinnerung. Und obwohl dieser Fokus vor dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 feststand, passt er doch sehr gut auf die komplexe Gemengelage, in der wir uns nun befinden.

Aktuelle Perspektiven auf Antisemistimus und Holocaust

Einige Vorträge nehmen Bezug auf Vorgänge der jüngsten Vergangenheit: So spricht etwa die Historikerin Isolde Vogel über die Verwendung des „Judensterns“ durch Impfgegner, die sich so als „Opfer“ der staatlichen Impfpolitik kenntlich machen wollten.

Ebbrecht-Hartmann: Die aktuelle Perspektive auf Antisemitismus ist uns natürlich besonders wichtig.

Ein weiteres Thema ist der aktuelle Paradigmenwechsel in der Holocaustforschung. Bald gibt es keine Augenzeugen mehr.

Ebbrecht-Hartmann: Mit diesem Thema befasst sich der Vortrag von Mira Langer von der Universität Wien: Ihr geht es um den Blick von Kindern und Enkelkindern von Überlebenden auf die Vergangenheit. Die Darstellung des Holocaust verschiebt sich auf die Nachkommen und natürlich auf Film, Audio, digitale Medien. Eine unserer Doktorandinnen untersucht digitale Holocaust-Erinnerung und die Frage, wie digitale Erinnerungsträger für die Forschung genutzt werden können. Die Frage der Repräsentation spielt eine zunehmend große Rolle.

Um abschließend auf Ihre Eingangssorge zurück zu kommen, dass die österreichischen Gäste ausbleiben könnten. War die berechtigt?

Ebbrecht-Hartmann: Es gab keine Absagen, aber viele Unsicherheiten. Einige Graduierte und Postgraduierte haben gesagt: Gerade jetzt wollen wir kommen. Andere werden aus Österreich online zugeschaltet, sodass wir auf diese Weise im Gespräch bleiben. Die, die allerdings vor Ort persönlich an unserer Campus-Tour teilnehmen können, werden einen sehr konkreten Eindruck des Konflikts gewinnen. Denn vom Standort unserer Universität, dem Mount Skopus, blickt man in alle Richtungen: Man sieht die Altstadt und West-Jerusalem, sieht weit Richtung Totes Meer. Man sieht israelische Siedlungen und das palästinensisch geprägte Ost-Jerusalem sowie das Westjordanland und erfasst in diesem geographischen Panorama sehr gut die Komplexität der Auseinandersetzungen. Denn räumlich, allerdings wirklich nur räumlich, liegt diese Universität im Zentrum des Konflikts.

 

AUF EINEN BLICK

Tobias Ebbrecht-Hartmann hat an der Hebräischen Universität in Jerusalem den Cardinal Franz Koenig Chair in Austrian Studies inne. Er unterrichte Filmgeschichte, deutsche Kulturgeschichte und Erinnerungskulturgeschichte. Er publiziert zu filmischer und digitaler Erinnerung an den Holocaust sowie den Umgang mit historischem Filmmaterial.