19.01.2024 | Literaturforschung

“Heldenplatz“: Entstehung von Thomas Bernhards Skandalstück entschlüsselt

Den bislang größten Theaterskandal der Zweiten Republik löste 1988 ein Drama Thomas Bernhards aus: „Heldenplatz“ wurde zu einem Exempel nicht nur der literarischen, sondern auch der politischen und gesellschaftlichen Geschichte Österreichs. Mit einer neuen digitalen Edition rekonstruieren Forscherinnen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erstmals Details zur Werkgeschichte.

Am Wiener Burgtheater wurde Thomas Bernhards Theaterstück „Heldenplatz“ uraufgeführt - und polarisierte das Publikum auf Anhieb. © AdobeStock

Über eine halbe Stunde lang applaudierte das Publikum bei der Uraufführung von Thomas Bernhards Theaterstück „Heldenplatz“ im Wiener Burgtheater. In den frenetischen Beifall mischten sich auch grölend Buhrufe. Der Premierenabend am 4. November 1988 war ausverkauft und fand unter Polizeischutz statt. Denn bereits in den Wochen davor gingen die Wogen in den heimischen Medien hoch. Passagen aus Bernhards Drama waren noch während der Proben verschiedenen Zeitungsredaktionen zugespielt worden. 

„6,5 Millionen Debile“ titelte die Kronen Zeitung in ihrer Ausgabe vom 7. Oktober 1988. Der damalige Bundespräsident Kurt Waldheim, Vizekanzler Alois Mock (beide ÖVP) sowie der FPÖ-Bundesparteiobmann Jörg Haider wollten daraufhin das Theaterstück absetzen lassen: Es sei unzulässig, Bernhards „Österreichbeschimpfungen“ noch durch Steuergelder zu subventionieren. „Heldenplatz“ handelt von den Hinterbliebenen des ehemals von den Nazis vertriebenen Mathematikprofessors Josef Schuster, der, aus dem englischen Exil nach Wien zurückgekehrt, sich aufgrund des unveränderten Antisemitismus das Leben nimmt. 

Bis zur Premiere des Stücks, das im Auftrag des damaligen Burgtheaterdirektors Claus Peymann für das 100-Jahr-Jubiläum des Gebäudes an der Wiener Ringstrasse entstand, wurde darüber spekuliert, ob Bernhard den Text entschärft oder weiter zugespitzt haben könnte.

Hat Bernhard auf die Skandalisierung in seinem Stück reagiert?

Diese Fragen beantworten nun Literatur- und Textwissenschaftlerinnen an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in einer neu erschienenen historisch-kritischen digitalen Edition von „Heldenplatz“. Darin beleuchten die Herausgeberinnen Konstanze Fliedl, Barbara Tumfart und Silvia Waltl die im Nachlass überlieferte Entstehungsgeschichte: Einsehbar als Faksimile und Transkription sind hier diverse Textstufen von Entwürfen und Fragmenten über Typoskripte bis hin zu mehrfach vom Autor korrigierten Druckfahnen dokumentiert. 

Achtung Spoiler: Aus diesen Textträgern geht nicht nur hervor, wie Bernhards Ideen in den typischen thematischen und syntaktischen Schleifen entwickelt wurden, sondern auch, dass er auf die Skandalisierung seines Dramas im Grunde nicht reagierte: Spätere Texteingriffe haben nichts mit seinem Rundumschlag gegen den österreichischen Faschismus, Katholizismus und Sozialismus zu tun.

Medienberichte und Kommentare von damals visuell dargestellt 

Die am Austrian Center for Digital Humanities and Cultural Heritage der ÖAW erstellte Ausgabe präsentiert die Digitalisate der betreffenden Überlieferungsträger mit Transkription. Alle Texte sind per Volltextsuche durchsuchbar, außerdem bieten Register und Stellenkommentare zusätzliche Informationen zu Personen, Orten und Ereignissen. In einer Zeitleiste werden auch die zahlreichen und kontroversen Presseartikel bibliographisch erfasst. 

Damit sind neue Zugänge zum Text und zu seiner Wirkung gewonnen. Thomas Bernhards Drama kann so nicht nur als Schlüsseltext österreichischer Literaturhistorie, sondern auch als Dokument österreichischer Politik- und Gesellschaftsgeschichte gelesen werden. Die Veröffentlichung von „Heldenplatz“ folgt der Publikation der historisch-kritischen digitalen Edition von Bernhards 1982 erschienener Erzählung „Wittgensteins Neffe“ Ende 2021 durch die ÖAW.

 

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