15.03.2024 | Ringvorlesung zu Eurasien

„NATO-Beitritt Schwedens aus Angst vor Russland“

Schweden wurde kürzlich als 32. Mitglied in die NATO aufgenommen. Das Land im Norden gibt damit – anders als Österreich – seine Neutralität auf. Hauptgrund ist Russlands Krieg gegen die Ukraine. Der schwedische Historiker und ÖAW-Gast Dick Harrison gibt im Gespräch Einblicke in die historisch gewachsene Angst vor Russland – und deren Folgen für die heutige Politik.

Schweden ist am 7. März 2024 dem Militärbündnis NATO beigetreten. © Adobe Stock

Russland war für Schweden nicht immer ein Problem. „Schweden und Russland waren vor 1000 Jahren eng befreundet“, sagt Dick Harrison, Geschichte-Professor an der Universität Lund. „Vor 500 Jahren war Russland dann auf einmal der Erzfeind. Ab dem 18. Jahrhundert ist die Wahrnehmung von Angst geprägt“, so Harrison. Und diese Angst spielte auch bei der Entscheidung für den NATO-Beitritt des nordischen Landes eine große Rolle.

Harrison ist im Rahmen der Vorlesungsreihe “Nordic Perspectives on Russia” an der Universität Wien zu Gast, die gemeinsam veranstaltet wird mit dem Exzellenzcluster „Eurasian Transformations“, der von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) geleitet wird. Im Interview gibt der schwedische Historiker Einblicke in die wechselhaften Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarn im europäischen Norden. Denn: „Das Verhältnis zu Russland war für europäische Staaten immer ein besonderes und es ist interessant zu analysieren, wie und warum sich die Sicht auf das Riesenreich geändert hat.“

WODKA UND DOSTOJEWSKI

Warum ist die Beziehung zu Russland und den nordeuropäischen Ländern besonders?

Dick Harrison: Mit Nachbarn wie Deutschland gab es in den nordischen Ländern einen regen kulturellen Austausch. Solche Kontakte haben zum Beispiel Spuren in der schwedischen Sprache hinterlassen. Gut die Hälfte unseres modernen Vokabulars geht auf englische, französische und deutsche Wurzeln zurück. Der einzige erkennbare kulturelle Einfluss aus Russland in Schweden sind heute unsere Wodkaflaschen und die Spirituosengeschäfte. Das gilt auch für andere europäische Länder: Mit Ausnahme einiger weniger Meister wie Dostojewski oder Tschaikowski ist der russische Einfluss im Westen sehr bescheiden. Russland wird in Europa generell als der große, fremde und gefährliche Nachbar gesehen.

Im 16. Und 17. Jahrhundert war Russland das Andere, das man der eigenen, europäischen Identität gegenüberstellen konnte.

Wie kam es zu dieser Wahrnehmung?

Harrison: Es gibt mehrere Gründe für die Einordnung Russlands als außereuropäisch. Bis vor 1000 Jahren war es ein Nachbar unter vielen, aber um 1240 haben sich die Beziehungen geändert und Russland wurde plötzlich als fremd wahrgenommen. Im 16. und 17. Jahrhundert nahmen europäische Gelehrte das Reich bereits als Teil Asiens wahr, nicht weniger exotisch als China oder Indien. Russland war das Andere, das man der eigenen, europäischen Identität gegenüberstellen konnte. Das hat natürlich auch die politischen Beziehungen stark geprägt.

Russland sah außerhalb seiner Grenzen nur noch Feinde und diese Sichtweise wurde von der politischen Führung bestärkt.

Hat diese Angst eine Basis in der Realität oder fürchten die Menschen eine Erzählung?

Harrison: Menschen formen sowohl die Erzählungen als auch die Realität und beides beeinflusst sich immer gegenseitig. Russland hat Europa im Mittelalter als Kreuzfahrer gesehen und musste seine Aufmerksamkeit aufgrund der Mongolen und der Goldenen Horde lange Zeit in den Osten richten. Dadurch hat sich mit der Zeit eine Distanz entwickelt. Die Europäer sahen den orthodoxen Glauben und ein Reich, das zu Asien gehörte. So haben sich die vorhandenen Vorurteile und Erzählungen auf beiden Seiten mit der Zeit verstärkt und eine bestimmte Wahrnehmung hat sich durchgesetzt. Diese “Realität” hat die Beziehungen der letzten 600 Jahre beeinflusst. 

KREUZZÜGE UND MONGOLEN

Welche politischen Konsequenzen haben solche vorgefertigten Bilder?

Harrison: Im 16. und 17. Jahrhundert gab es in Russland auf vielen Ebenen drastische Veränderungen. Westliche Beobachter berichteten, dass die Menschen in Russland ihre Nachbarländer in diesen unsicheren Zeiten mit Misstrauen und Furcht assoziiert haben. Diese Angst und Distanz waren neu und auch politisch gewollt, weil sie als notwendige Reaktion auf die Kreuzzüge und die Vorstöße der Mongolen gesehen wurden. Wie so oft haben sich Geschichte und Fakten vermischt. Russland sah außerhalb seiner Grenzen nur noch Feinde und diese Sichtweise wurde von der politischen Führung bestärkt. Im Aufeinandertreffen zweier verschiedener Kulturen haben beide Seiten die Entfremdung bewusst mit Erzählungen gefördert, die von Angst, Verachtung und Schmähungen geprägt waren. Dass Russland nicht europäisch sei, wurde in Europa die neue Leitlinie. 

Die Europäer wollten immer, dass die Russen wie sie wären und sich in die kontinentale Ordnung eingliedern. Diese Hoffnungen wurden aber enttäuscht.

Wann waren die Beziehungen das letzte Mal besser?

Harrison: Vor 800 Jahren war die Stimmung gegenüber Russland unter den europäischen Nachbarn relativ positiv. Später hat Russland in den Napoleonischen Kriegen bitter mit seinen Nachbarn gekämpft, sich dann aber mit Dänen und Schweden gegen die britische Marine verbündet. Solche Annäherungsversuche waren aber nie von Dauer. Die Europäer wollten immer, dass die Russen wie sie wären und sich in die kontinentale Ordnung eingliedern. Diese Hoffnungen wurden aber enttäuscht. Dieses Muster setzt sich auch heute noch fort: Europa hoffte auch nach dem Kaukasuskrieg 2008 noch, Russland für den “Westen” gewinnen zu können. Das war aber selbst in der Jelzin-Ära nie realistisch. Die Entfremdung ist deshalb auf beiden Seiten eine politische Realität geworden. Das heißt natürlich nicht, dass man das nicht ändern könnte. Solche Konflikte sind menschengemacht und können gelöst werden, auch wenn die gegenseitige Wahrnehmung zwischen Nachbarn schwer zu ändern ist.

NATO-BEITRITT BEENDET JAHRUNDERTELANGE NEUTRALITÄT

Wie sehen die Beziehungen heute aus?

Harrison: Schweden war lange Zeit zu optimistisch und die Beziehungen zu Russland waren von Wunschdenken geprägt. Das hat sich jetzt geändert. Der NATO-Beitritt Schwedens ist eindeutig in Angst vor Russland begründet. Wir haben 200 Jahre lang versucht, neutral zu bleiben, aus historischem Anlass: Nachdem wir in den napoleonischen Kriegen etwa ein Drittel unseres Landes und unserer Bevölkerung verloren haben und unser König abgesetzt wurde, haben wir beschlossen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Diese Phase der Geschichte ist jetzt offensichtlich vorbei. Finnland hat nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine Angst bekommen, weil es selbst viele Erfahrungen mit russischen Attacken machen musste, zuletzt im 20. Jahrhundert. Nach dem NATO-Beitritt Finnlands war es undenkbar, dass Schweden nicht nachzieht. Wir sehen die Finnen als unsere Brüder. Diese Angst vor Russland ist wie gesagt nicht neu und sie kann jederzeit einfach wieder beschworen werden. Deshalb ist es so interessant, das Phänomen historisch zu beleuchten. 

Was können wir aus der Vergangenheit lernen?

Harrison: Schweden hat im Verlauf der Geschichte etwa 20 Kriege mit Dänemark geführt, viel mehr als mit Russland. Aber die Dänen sind heute unsere Freunde. Deutschland wurde auch lange gefürchtet, aber heute ist es ein guter Nachbar. Russland ist derzeit weder ein Freund noch ein Nachbar. Es ist aber immer gefährlich, wenn man auf Basis solcher Wahrnehmungen reagiert, ohne vorher zu überlegen. Gerade wenn es um Situationen geht, die historische Tragweite haben. Wir sollten zumindest innehalten und kurz nachdenken, ob die wieder aufflammende Furcht vor Russland wirklich die beste Basis für künftige Entscheidungen ist. 

 

Dick Harrisson at Göteborg Book Fair 2011 © Arild Vågen

 

AUF EINEN BLICK

Dick Harrison ist Professor am Institut für Geschichte der Universität Lund in Schweden. Er hat über hundert Bücher geschrieben. Die Ringvorlesung „Nordic Perspectives on Russia” findet vom 14. März bis 20. Juni an der Universität Wien statt und wird mitveranstaltet vom FWF geförderten Exzellenzcluster „Eurasian Transformations“, der von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) geleitet wird.