23.02.2024 | Zwei Jahre Krieg

Ukraine: "Der Zermürbungskrieg wird weitergehen"

Der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak, Mitglied der ÖAW, über den Verlauf des Krieges, die Situation in Russland und die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine verwüstet weite Teile des Landes. © AdobeStock

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine tobt nun seit zwei Jahren. Yaroslav Hrytsak, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), betrachtet die Entwicklungen aus mehreren Perspektiven: als Historiker und ausgewiesener Kenner der Geschichte der Ukraine - und als Betroffener, der unmittelbar Beobachtungen über die Geschehnisse und Stimmungen in seinem Land anstellen kann.

Im Gespräch gibt er Einblicke in seine aus mehreren Blickwinkeln gewonnenen Einschätzungen.

Stillstand an der Front

Wie geht es Ihnen?

Yaroslav Hrytsak: Wie wir in der Ukraine sagen: Es könnte schlimmer sein. Ich bin ein zynischer Optimist.

Wie ist die Lage in der Ukraine?

Hrytsak: Es gibt keine großen Veränderungen. Die Fronten sind festgefahren und beide Seiten verteidigen ihre Positionen mit hohen Verlusten.

Die USA haben derzeit zu viel Angst vor einer möglichen russischen Reaktion.

Wie lange kann das so weitergehen?

Hrytsak: Ich möchte gerne glauben, dass es eher zwei Jahre sind als zehn. Aber es gibt keine Abkürzungen. Das einzige Szenario, das die Lage grundlegend ändern könnte, wäre die Verfügbarkeit von technologisch hochentwickelten Waffensystemen für die ukrainischen Streitkräfte. Genauer gesagt, würde das Angriffe auf Ziele auf der Krim ermöglichen, was den Verlauf des Krieges ändern könnte. Ohne die verwundbare Anbindung der Krim an das russische Festland wäre das Gebiet isoliert und schwer zu halten. Das könnte Russland schneller an den Rand einer Niederlage bringen, aber die USA haben derzeit noch zu viel Angst vor einer möglichen russischen Reaktion auf eine derartige Eskalation.

Wären die deutschen Taurus-Raketen, die über einen Ringtausch in die Ukraine kommen könnten, ausreichend?

Hrytsak: Vielleicht können die deutschen Waffen einen Unterschied machen. Momentan ist die ukrainische Armee unterversorgt und es gibt keine nennenswerten Langstreckenwaffen.

Russland in Kriegsstimmung

Was ist vor diesem Hintergrund das wahrscheinlichste Szenario für den weiteren Kriegsverlauf?

Hrytsak: Der Zermürbungskrieg wird weitergehen. Nur ein Zusammenbruch Russlands könnte das ändern und danach sieht es momentan nicht aus. Ohne einen kompletten Kollaps des russischen Systems sehe ich derzeit keinen Weg zum Frieden. Ich bin vorsichtig optimistisch, weil Umfragen im vergangenen Herbst in Russland erstmals eine Mehrheit für Friedensverhandlungen ergeben haben. Jeder Zermürbungskrieg ist von der Unterstützung der Bevölkerung abhängig und je länger die Kampfhandlungen dauern, desto stärker wird der Wunsch der Bevölkerung nach Frieden. Die russischen Bürger:innen haben  Angst und fürchten, dass die Lage in den kommenden Jahren noch deutlich schlimmer werden könnte. Auch in der Ukraine wächst die Zahl der Befürworter:innen von Friedesnverhandlungen, bislang sind die aber noch in der Minderheit. Die Mehrheit der Bevölkerung steht nach wie vor voll hinter den Streitkräften und will bis zu einem militärischen Sieg weiterkämpfen.

Es gibt Risiken für Putin, er ist nicht unverwundbar.

Putin stellt sich dieses Jahr einer Wiederwahl. Macht ihn das verwundbar?

Hrytsak: Das ist eine Wahl, bei der das Ergebnis schon vorab feststeht. Putin wirkt momentan stark, weil der Krieg sich zuletzt nach seinen Wünschen entwickelt hat: Die politische Krise in den USA, der Gaza-Krieg und die fehlgeschlagene Gegenoffensive der Ukraine haben ihm in die Hände gespielt. Die Bevölkerung steht derzeit wohl immer noch hinter ihm, und er ist bereit, so lange an der Macht zu bleiben wie nur irgendwie möglich. Er ist ja immerhin erst 71, kann das also gut und gerne noch zehn Jahre lang machen. Aber es gibt natürlich Risiken für Putin, er ist nicht unverwundbar. Falls die Ukraine auf der Krim militärische Erfolge erzielen kann, wächst der Druck auf die Verantwortlichen in Moskau unter Umständen rasant.

Ukrainer:innen wollen Gerechtigkeit

Was müsste 2024 passieren, damit das Kriegsende näherrückt?

Hrytsak: Ich erwarte dieses Jahr keine großen Veränderungen der Rahmenbedingungen und sehe eher Vorbereitungen für mögliche Fortschritte in weiterer Ferne. Dafür müssen vorher aber die Grundvoraussetzungen stimmen. Der Ausgang der US-Wahlen und das Ausmaß von militärischer und wirtschaftlicher Hilfe für die Ukraine werden entscheidend sein. Die meisten Militärexpert:innen gehen davon aus, dass die Frontlinien für absehbare Zeit relativ stabil bleiben werden.

Wie lange kann die Bevölkerung das aushalten?

Hrytsak: Die ukrainische Bevölkerung ist in den vergangenen zwei Jahren hauptsächlich durch Patriotismus angetrieben worden. Trotz Erschöpfungserscheinungen an der Front ist der Wille ungebrochen. Aber jetzt wird der Krieg langsam zur Routine und wir haben Probleme bei der Mobilisierung. Im Februar wird das Rekrutierungssystem umgestellt, um auch für einen langen Krieg gerüstet zu sein. Außerdem hat Präsident Zelensky angekündigt, verstärkt gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen, die zersetzend auf die Moral der Bevölkerung wirkt. Im Chaos des Krieges fehlt einfach an vielen Stellen die Kontrolle. In der Ukraine erwarten die Menschen jetzt Gerechtigkeit, nachdem viele so vieles geopfert haben für die Verteidigung des Landes.

Historisches Gedächtnis im Westen

Eine Niederlage der Ukraine wäre für Europa am Ende weitaus kostspieliger.

Ist die Unterstützung aus dem Westen ausreichend?

Hrytsak: Vor kurzem hat mir ein ehemaliger estnischer Präsident in Davos gesagt, dass die 54 Länder in der Ramstein-Gruppe derzeit weniger als 0,1 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für die Unterstützung der Ukraine aufwenden. 0,3 Prozent würden ausreichen, um Russland in Schach zu halten. Klar ist, dass eine Niederlage der Ukraine für Europa am Ende weitaus kostspieliger wäre. Das haben die Europäer:innen lange nicht verstanden. Aber jetzt sehe ich, dass sich die Erkenntnis langsam durchsetzt, zumindest wenn man die jüngsten Äußerungen von Politiker:innen in Österreich, Großbritannien, Polen und vor allem Deutschland ernst nimmt.

Warum hat das so lange gedauert?

Hrytsak: Ich glaube, dass das historische Gedächtnis in vielen Ländern zu kurz ist. Vielerorts gibt es drei Generationen, die glücklicherweise nie erleben mussten, was Krieg bedeutet. Das ist aber auch ein Problem. Wenn die Länder schlafwandeln, wie vor dem Ersten Weltkrieg, führt das in den Untergang. Einige Länder wie Italien und Österreich haben auch ihre eigene Vergangenheit unzureichend aufgearbeitet und die Lektionen der Geschichte nicht verinnerlicht. Die Unterstützung, die Europa zugesagt hat, kommt deshalb meist zu spät und zu langsam.

Welche Rolle spielt die mediale Berichterstattung für den Krieg?

Hrytsak: Auch hier ist die Einsicht eingekehrt, dass wir uns auf einen langen Krieg einstellen müssen. In der Ukraine gibt es Kritik an den großen Medienhäusern. Der Vorwurf ist, dass sie nur gute Nachrichten verbreiten. Viele Menschen weichen deshalb auf alternative Kanäle wie YouTube und Telegram aus, um ein vielfältiges Bild zu bekommen. In Russland wird alles versucht, um den Diskurs zu kontrollieren. Moskau nimmt sich ein Beispiel an Beijing und zensiert alles, was der Führung nicht in den Kram passt. Die Mehrheit der Russ:innen glaubt den Porpagandaerzählungen noch. Der Tonfall in russischen Medien ist bedenklich und voll mit Hasstiraden der übelsten Sorte. Dass Umfragen jetzt trotz der Propaganda erstmals eine Mehrheit für Verhandlungen in der Bevölkerung sehen, ist deshalb beachtlich.

 

Auf einen Blick

Yaroslav Hrytsak ist Historiker an der Ukrainian Catholic University und Direktor des Institute for Historical Studies of Ivan Franko National University. Er ist seit 2022 Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Ausland. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Overcoming the Past: Global History of Ukraine“ (auf Ukrainisch).