12.09.2023 | Frühe Neuzeit

Vom Vorreiter zum Nachzügler: Die Osmanen in Europa

Bei einer Konferenz an der ÖAW schildert der Historiker Gábor Ágoston, wie das Osmanische Reich zunächst Modernisierungsprozesse in Europa anstieß - und diesen letztlich selber zum Opfer fiel.

Die Schlacht am Kahlenberg 1683. © Wikimedia Commons/Google Art Project

Am 12. September 1683, vor genau 340 Jahren, lieferten sich die Osmanen und eine christliche Allianz bei Wien einen blutigen Kampf, der in die Geschichte eingehen sollte: die Schlacht am Kahlenberg. Das Gefecht, bei dem das osmanische Heer unterlag, beendete nicht nur die Zweite Wiener Türkenbelagerung. Zugleich markierte sie auch einen Wendepunkt in der osmanischen und europäischen Geschichte. 

Gábor Ágoston, Historiker an der Georgetown University, zufolge war es allerdings nicht eine einzelne verlorene Schlacht, die den Niedergang des Osmanischen Reiches und den Aufschwung der europäischen Mächte in der Region einleitete, sondern der Grad an Modernisierung. Wie er in seinem Buch “The Last Muslim Conquest: The Ottoman empire and its Wars in Europe”  schreibt, zu dem er einen Online-Gastvortrag am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hielt,  lösten die Osmanen zwar in der frühen Neuzeit zunächst einen Modernisierungsschub in Europa aus. In den darauffolgenden Jahrhunderten konnten sie dann aber nicht die zentralisierten Strukturen ausbilden, um das daraus resultierende Wettrüsten zu gewinnen - und wurden schließlich abgehängt. Im Interview bietet er Einblicke in seine Sicht dieser historischen Entwicklungen. 

Aufschwung und Niedergang

Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Gábor Ágoston: Ich wollte verstehen, wie es passieren konnte, dass die Habsburger und das Russische Reich die Osmanen Mitte des 18. Jahrhunderts militärisch überholen konnten. Noch im 16. Jahrhundert waren die Osmanen nämlich eine militärische Großmacht, die großen Druck auf die Habsburger ausübte und die Errichtung eines effektiven Bollwerks in Ungarn und Kroatien sowie eine Modernisierung des Militärs und seiner Finanzierung notwendig machte. In den 70er-Jahren haben Historiker noch vom Niedergang der Osmanen im 17. Jahrhundert gesprochen. Heute wissen wir, dass auch andere Großmächte im 17. Jahrhundert Krisen erlebt haben. Die Osmanen mussten mit denselben Herausforderungen umgehen, haben aber andere Lösungen entwickelt, die langfristig dann nicht funktioniert haben.

Was waren das für Herausforderungen?

Ágoston: Aufgrund vieler Veränderungen kam es im Osmanenreich zu vielschichtigen Transformationen und Dezentralisation. Ich habe in einem früheren Buch zum Beispiel die Veränderungen auf dem Gebiet von Militärtechnik und Waffenentwicklungen beschrieben. Hier hat man lange von einer Schießpulverrevolution in Europa gesprochen, weil neue Waffen die Kriegsführung komplett auf den Kopf gestellt haben. Eine gängige These war, dass die Osmanen hier nicht mit Europa mithalten konnten und deshalb zurückgefallen sind. 

Die Osmanen hatten dieselbe Waffentechnologie, robuste Industrien für Munition und Waffen."

Das stimmt so nicht?

Ágoston: Die Osmanen hatten dieselbe Waffentechnologie, robuste Industrien für Munition und Waffen und anders als etwa die Habsburger auch genug Waffen für alle ihre Streitkräfte. Wenn die europäische Waffenrevolution wirklich so erfolgreich gewesen wäre, hätte auch die zweite Türkenbelagerung Wiens 1683 nicht mehr so stattgefunden. Im 16. und 17. Jahrhundert haben die Osmanen noch Druck auf die Habsburger gemacht, aber zum Ende des 17. Jahrhunderts wurden sie schon auf die andere Seite der Donau zurückgedrängt. 

Wechselseitiger Einfluss

Wie ist das passiert?

Ágoston:  Habsburger, Osmanen und Russland haben sich immer stark gegenseitig beeinflusst. Das geht zurück bis zum Aufstieg der Osmanen, der für die europäischen Mächte ein entscheidendes Ereignis war. Was die Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland für Westeuropa war, war für Zentraleuropa das Verhältnis zwischen Habsburgern, Osmanen und Russland. Hätten die aufstrebenden Osmanen nicht so viele Ressourcen der Habsburger in Spanien und Österreich gebunden, hätten diese vielleicht entschiedener auf die Reformation reagieren können und die Geschichte wäre ganz anders verlaufen. 

Die militärische Transformation war sicher eine Reaktion auf die Überlegenheit der Ottomanen im 16. Jahrhundert. Im Zuge der Modernisierung kam es auch zu Neuerungen in der Verwaltung und der Finanzierung. Die reale oder gefühlte Überlegenheit der Osmanen hat die zentraleuropäischen Mächte zum Handeln gezwungen. 

 Im 16. Jahrhundert erlebten die osmanischen Streitkräfte unter Sultan Suleiman ihr Goldenes Zeitalter. Die Fähigkeiten der Truppen waren beeindruckend und die Verwaltung ordentlich und professionell."

Wie hat sich das Militär der Osmanen tatsächlich geändert?

Ágoston: Im 16. Jahrhundert erlebten die osmanischen Streitkräfte unter Sultan Suleiman ihr Goldenes Zeitalter. Die Fähigkeiten der Truppen waren beeindruckend und die Verwaltung ordentlich und professionell. Man darf aber auch nicht vergessen, dass das Militär noch wesentlich kleiner war als 100 Jahre später. Die Feinde haben aufgerüstet und der Geschwindigkeitsvorteil ging irgendwann verloren. Die Grenzen zwischen den Mächten haben sich zunehmend verfestigt und so wurde auch das osmanische Heer gezwungen, Reformen anzugehen. Um die Änderungen vornehmen zu können, haben sie auf ihre dezentralen Strukturen für Verwaltung und Finanzierung des Militärs gesetzt.

Die Armeen wurden professioneller, die Offiziere wurden von zentralen Institutionen ausgebildet."

Und wie sah es bei den Europäischen Mächten aus?

Ágoston: Die europäischen Mächte haben anders auf den Reformdruck reagiert. Die Armeen wurden professioneller, die Offiziere wurden von zentralen Institutionen ausgebildet. Die Osmanen, die keine einheitlichen Strukturen ausgebildet hatten, konnten nicht mehr mithalten und den relativen Abstieg nicht verhindern. Bei den vielen Feinden, die die Osmanen hatten, grenzt es an ein Wunder, dass sie Ende des 17. Jahrhunderts nur Ungarn verloren hatten. 

Am Ende sind die Osmanen also Opfer einer Modernisierung, die sie selbst angestoßen haben, die sie aber mit ihren dezentralen Strukturen nicht gut bewältigen konnten?

Ágoston: Ja, im 16. Jahrhundert hat das noch gut funktioniert, aber die Strukturen konnten die nötigen Reformen nicht adäquat vermitteln. Die Osmanen waren gewohnt, die besten Köpfe aus einem multinationalen und multiethnischen Reich zu rekrutieren und durch agile und kluge Diplomatie die Kräfte der Feinde aufzuspalten. Im Gegensatz zu Europa haben sich so aber keine starken zentralisierten Strukturen entwickelt. Als die europäischen Mächte dann Militärorganisation, Nachrichtenbeschaffung und Finanzierung professionalisiert haben, konnten die Osmanen nicht mithalten. 

 

Auf einen Blick

Gábor Ágoston, Historiker an der Georgetown University, veröffentlichte 2021 das Buch "The Last Muslim Conquest: The Ottoman Empire and its Wars in Europe", zu dem er auch einen Online-Vortrag an der ÖAW hielt.