17.10.2023 | Symposium Convergence

Wir sind alle Cyborgs

Technik hat die Möglichkeiten des menschlichen Körpers erweitert. Das macht uns alle zu Cyborgs, sagt die US-amerikanische Anthropologin Amber Case. In Zukunft wird Technologie noch mehr unseren Alltag bestimmen. Doch derzeit entwickeln wir die falschen Dinge, warnt die Forscherin. Sie ist zu Gast bei einem ÖAW-Symposium zu künstlicher Intelligenz in Wien.

Wir sind Cyborgs, weil wir Werkzeuge benutzen, also künstliche Erweiterungen unseres Körpers. Das Bild zeigt die britische Forscherin Dani Clode, die einen „dritten Daumen“ entworfen und auf der ÖAW-Konferenz in Wien präsentiert hat. © Daniel Hinterramskogler/ÖAW

Beim Symposium "Convergence? Interfaces of the Digital and the Living", das die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gemeinsam mit dem Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) veranstaltet, beschäftigen sich Forscher:innen am 17. und 18. Oktober in Diskussionen und Vorträgen mit den Schnittstellen zwischen Digitalisierung und dem menschlichen Körper. Eine der Teilnehmer:innen ist die Cyborg-Anthropologin Amber Case aus den USA. Sie erklärt im Interview, warum wir alle längst Cyborgs sind und weshalb neue Technologien unser Leben nicht immer verbessern.

VOM STEINKEIL ZUM GEHIRNIMPLANTAT

Sie werden beim Symposium in Wien argumentieren, dass Menschen schon längst Cyborgs sind. Warum ist das so?

Amber Case: Wir sind Cyborgs, weil wir Werkzeuge nutzen, um mit unserer Umwelt zu interagieren. Das sind künstliche Erweiterungen unseres Körpers, die uns neue Fähigkeiten geben.

Es gibt keinen qualitativen Unterschied zwischen einem Steinkeil und einem Gehirnimplantat?

Case: Die Unterscheidung hängt davon ab, wie wir die Werkzeuge betrachten. Ein einfaches Werkzeug, sozusagen für Low-Tech-Cyborgs, sind Laufschuhe, die uns unterstützen, ohne dass wir ihnen Aufmerksamkeit schenken müssen. Das ist eine stille Hintergrundtechnologie (pass through tech), die uns erlaubt, uns auf die Aufgabe zu konzentrieren, nicht auf das Werkzeug. Und wenn die Schuhe nicht gebunden sind, dann praktizieren wir das erlernte Ritual des Bindens. Solche erlernten Regeln sind ein wichtiger Bestandteil von stiller Technologie. Ein Gegenbeispiel wäre eine implantierte Insulinpumpe, die den Blutzucker misst und piept, wenn der Wert sinkt. Diese Art der Cyborg-Erweiterung ist komplexer, seltener und nicht still. Der Warnton lässt sich bei manchen Geräten nicht abdrehen. Die Nutzer:innen sollen dann wohl oder übel mit einem ungewollten Cyborg-Signalton leben.

Wir leben in einer sehr langweiligen Zeit, in der andere Leute Technologie für Schablonen-Kunden entwickeln.

TECHNIK MIT MITBESTIMMUNG

Was kennzeichnet gute technische Hilfsmittel?

Case: Wenn unsere Cyborg-Erweiterungen von jemand anderem designt wurden, sind sie manchmal keine guten Mitbewohner. Im Falle des Warntons von Insulinpumpen gibt es natürlich gesetzliche Vorgaben, aber man könnte das Problem besser lösen. Die Warnung könnte über einen Vibrationsalarm erfolgen, was das Leben von Pflegepersonal und Betroffenen, die diskret gewarnt werden wollen, verbessern würde. Am Ende geht es immer um den Kontext, in dem eine Technologie genutzt wird. Wichtig ist, dass die Benutzer:innen Auswahlmöglichkeiten haben, um eine Technologie an ihre Bedürfnisse anpassen zu können. Dafür müssen wir Menschen das Recht einräumen, solche Anpassungen vorzunehmen, auch wenn die Hersteller dann nicht mehr für alle möglichen Fehlfunktionen verantwortlich gemacht werden können.

Ist das im Falle einer Insulinpumpe nicht zu gefährlich?

Case: Wenn wir von Cyborgs reden, stehen tatsächlich manchmal Leben auf dem Spiel. Wir fahren ja alle Auto und nehmen die Risiken in Kauf, das ist auch nur eine technische Erweiterung, die uns das Reisen erleichtert. Am Anfang der Automobilentwicklung gab es Unfälle wegen überhöhter Geschwindigkeit. Erst mit der Zeit haben sich Normen und Gesetze entwickelt, um die Gefahr zu reduzieren. Nur weil sich alle an diese Regeln halten, können wir mit vertretbarem Risiko am Verkehr teilnehmen. Für piepende Insulinpumpen haben wir bislang keine Regeln entwickelt.

Wichtig ist, dass die Benutzer:innen Auswahlmöglichkeiten haben, um eine Technologie an ihre Bedürfnisse anpassen zu können.

Wie bei den nervigen Klingeltönen die zu Anfang der Mobilfunkära noch überall zu hören waren, dann aber von einer neuen Norm verdrängt wurden?

Case: Normen werden sich entwickeln, wenn man den Benutzer:innen die Kontrolle gibt. Im Fall der Klingeltöne haben wir das Problem recht rasch gelöst, aber jetzt ist die Situation dafür fad, weil alle für den Notfall denselben Klingelton eingestellt haben. Wir leben überhaupt in einer sehr langweiligen Zeit, in der andere Leute Technologie für Schablonen-Kunden entwickeln, in vorgefertigten Ausführungen, die nicht viel Spielraum für die Anpassung an unsere eigenen Bedürfnisse oder Kreativität lassen. Dabei sollten wir unsere Technologie eigentlich nach dem Vorbild von Darwins Finken entwickeln, die durch Vielfalt und Flexibilität verschiedenste Nischen erobert haben. Wir brauchen keine Einheitslösungen, sondern Flexibilität auf der User-Ebene.

WELCHE TECHNIK BRAUCHEN WIR?

Momentan geht der Trend in eine andere Richtung: Technologie wird zentral in wenigen Regionen der Welt entwickelt und die dortigen Perspektiven beeinflussen, was wir für möglich halten.

Case: Wir leben in einer Ära der Kontrolle und der von oben gesteuerten Technologieentwicklung. Ich habe aber keine Angst, dass das Pendel nicht früher oder später wieder in die andere Richtung ausschlagen wird. So funktionieren Ökosysteme und so funktioniert auch Technologie. Auch Apple ist ursprünglich als Teil einer Gegenbewegung zur zentralisierten Vision von IBM entstanden. Technologie muss sich ständig verändern, um sich an die Gegebenheiten anzupassen. Das nächste große Ding wird also genau jetzt irgendwo entwickelt, und nicht notwendigerweise im Silicon Valley.

Wir optimieren die falschen Dinge.

Gibt es Beispiele für neue, nutzerzentrierte Ansätze?

Case: Technologie sollte einfach funktionieren und konfigurierbar sein. Solche Lösungen sind schwer zu designen, aber erlauben Nutzer:innen, Technologien frei zu verwenden. Eine Hürde ist, dass wir Technologie für Arbeiter:innen und Technologie für Angestellte komplett getrennt betrachten. Länder wie Deutschland verdanken ihren Mittelstand der erfolgreichen Vermittlung von Arbeitertechnologie in Schule und Lehre. In den USA genießt die Entwicklung robuster Systeme für Generationen aber keinen guten Ruf mehr. Stattdessen folgen alle den neuesten Modetrends und entwickeln teils sinnlose Technologien, um schnell reich zu werden. Uns allen wird dieselbe Vorstellung davon vermittelt, wie Technologie auszusehen hat und entsprechend suchen junge Entwickler:innen nach Wagniskapital, um damit Dinge zu entwickeln, die keine wirklichen Probleme lösen. Wir optimieren die falschen Dinge.

Woran liegt das? Ist das eine Konsequenz einer kapitalistischen Ausrichtung unserer Ausbildungs- und Finanzierungspolitik?

Case: Ich habe selber zwei Start-ups aufgebaut und finde es nicht schlecht, Geld zu verdienen, solange das Ergebnis hilft, Systeme zu errichten, die Menschen für Jahrzehnte zur Verfügung stehen. Meine erste Firma hat Ladestationen für Elektroautos gebaut und also tatsächlich etwas Greifbares produziert. Der Aufbau hat 16 Jahre gedauert, was für die meisten Investor:innen heute schlicht zu lang ist. Wir bauen zu oft instabile digitale Systeme mit Wagniskapital, statt zu versuchen, die Größe eines MRT-Scanners zu reduzieren oder Plastik durch pilzbasierte Materialien zu ersetzen. Kapitalismus ist nicht das Problem, die Menschen stellen momentan einfach nicht mehr die richtigen Fragen und der Diskurs in unseren öffentlichen Foren wird zunehmend schlechter. Das liegt auch an der Trennung von Wissenschaft und Kunst. Wichtige Fragen stellt heute oft die Kunst. In der Vergangenheit haben auch berühmte Innovationszentren wie Xerox Parks oder die Bell Labs sich mit wichtigen Fragen befasst und dabei großartige Entdeckungen gemacht.

Kann uns Technologie retten?

Case: Die Frage ist nicht, ob Technologie uns retten wird. Es sind immer wir, die Technologie entwickeln und nutzen. Erst wenn ein folgenreiches Ereignis passiert, wie etwa ein Hurricane oder ein Schock im weltweiten Lieferkettenökosystem, dann haben wir Anreize, weniger Ressourcen zu verbrauchen und neue Technologie zu entwickeln. Menschen nehmen immer den leichtesten Weg. Heute kann jeder sehen, wie sich die Umwelt verändert und wir werden uns am Ende anpassen müssen. Aber noch ist der Druck anscheinend nicht hoch genug. Die richtige Frage wäre, welche Anreize die Menschen dazu bringen können, ihr Verhalten zu ändern.

 

AUF EINEN BLICK

Amber Caseist Anthropologin, Autorin und Gründerin. Sie veröffentlichte u.a die Bücher "Calm Technology" und "An Illustrated Dictionary of Cyborg Anthropology." Unter Caseorganic betreibt sie einen eigenen Blog.

Das Symposium "Convergence? Interfaces of the Digital and the Living" findet vom 17. bis 18. Oktober an der ÖAW in Wien statt (Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien). Die Veranstaltung von ÖAW und WWTF ist mit einer Anmeldung auch öffentlich zugänglich. Am 17. Oktober um 18 Uhr findet eine Podiumsdiskussion zum Thema „Living the future: How biomedical technology and AI may change society and humanity“ statt, die die Themen der Konferenz zusammenfasst.